Öffentlicher Diskurs über die KESB: Wie wurde eine institutionelle Reform zur moralischen Kontroverse und welchen Einfluss hat diese Kontroverse auf die Umsetzungspraxis?

Bettina Stauffer verfasst ihre Dissertation im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 76, «Fürsorge und Zwang» (www.nfp76.ch). Das Projekt wird in Kollaboration mit Johanna Künzler, ebenfalls Doktorandin am KPM, umgesetzt und durch Prof. Dr. Fritz Sager begleitet.

Ausgangslage

Die KESB-Behörden entscheiden über die Anwendung von Fürsorge- und Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Sie sind 2013 aufgrund einer Änderung des Zivilgesetzbuchs (ZGB) entstanden, die vom nationalen Parlament beschlossen wurde. Während die Westschweizer Kantone grossteils mit dem bestehenden System fortfahren konnten, führte die ZGB-Anpassung in den Deutschschweizer Kantonen und im Tessin zu organisatorischen Umwälzungen.

Die Analyse beginnt in den 1990er-Jahren mit den ersten Sitzungen zur Reform des Vormundschaftswesens, wie der Kindes- und Erwachsenenschutz damals genannt wurde. Die Untersuchung verfolgt anschliessend die Reform auf nationaler Ebene und die Umsetzung auf Kantonsebene in den 2000er-Jahren, um schliesslich mit der Mediendebatte und ihren Auswirkungen in der heutigen Zeit anzukommen.

Kurz nach ihrem Entstehen gerieten die KESB 2015 wegen des Kindsmords von Flaach (ZH) unter Beschuss. Bürgerinitiativen gegen die KESB bildeten sich, zeitweise standen KESB-Mitarbeitende sogar unter polizeilichem Schutz. Die moralpolitische Kontroverse hält bis heute an, trotz gegenteiliger Evidenz zur Arbeit der KESB und positiver Berichte externer Experten.

Das Forschungsprojekt interessiert sich für den Gegensatz zwischen öffentlicher und Expertenmeinung, für seinen Ursprung und für seine Konsequenzen.

Forschungsfragen

Ziel des Projektes ist es, die folgenden Fragen zu beantworten: 

  • Wie ist die KESB-Reform entstanden?
  • Wie hat sich die moralpolitische Kontroverse um die KESB entwickelt? Gibt es einen Unterschied zwischen Deutsch- und Westschweiz? 
  • Welche Konsequenzen hat die Kontroverse für die tägliche Arbeit der KESB?

Methodisches Vorgehen

Die Dissertation stützt sich auf eine breite Methodenbasis, um die Forschungsfragen differenziert beantworten zu können. Es kommen sowohl Dokumentenanalysen von Expertenprotokollen zum Einsatz wie auch semistrukturierte Interviews mit Vertretenden aus Wissenschaft und Praxis und teilnehmende Beobachtung der Behördenumsetzung. Im Kern des Projekts steht eine umfassende Mediendatenbank, welche von Bettina Stauffer und Johanna Künzler gemeinsam aufgebaut wurde. Sie enthält die deutsch- und französischsprachigen Debatten um das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht zwischen 2013 und 2016, welche anhand des Narrative Policy Frameworks analysiert werden.

Erwartete Ergebnisse

Erste Untersuchungen zeigen, dass die Reform während ihrer Entstehung kaum auf öffentliches Interesse stiess und vornehmlich unter der Ägide von Expertinnen und Experten entworfen wurde. Die unterschiedlichen Auswirkungen der nationalen Gesetzesänderung auf die Landesteile schlug sich in den jeweiligen Diskursen nieder. Während in der französischsprachigen Schweiz kaum Interesse an der Reform bestand und die Behörden bis heute die Umsetzung grösstenteils abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit vornehmen, provozierte die Gesetzesänderung in den deutschsprachigen Landesteilen grosse Diskussionen zur adäquaten Umsetzungsebene des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts sowie zur Beteiligung der Gemeinden an der Umsetzung. Der Kindsmord in Flaach stellte staatliche Eingriffe in die Familien in der Deutschschweiz grundsätzlich in Frage und sorgte für einen Reputationsschaden der KESB, den die Behörden bis heute in ihrer täglichen Praxis wahrnehmen. 

Das Dissertationsprojekt ist für verschiedene Gesellschaftskreise von Bedeutung. In Zeiten erhöhter medialer Aufmerksamkeit müssen Behörden wissen, wie sie mit negativer Berichterstattung umgehen können. Weiter erhalten die Schweizer Politik und Öffentlichkeit vertieften Einblick in ein Thema, das in den Medien stark präsent war und auch heute noch verschiedentlich aufgegriffen wird. Die Politikwissenschaft schliesslich gewinnt eine Langzeitperspektive auf einen politischen Prozess der Schweiz sowie Einblicke in die Dynamiken von öffentlichen Debatten und ihre Auswirkungen.

Diese Dissertationen werden von Bettina Stauffer und Johanna Künzler verfasst unter der Betreuung von Fritz Sager.